Islands „Elfenbeauftragte“ – (nur) eine Medieninszenierung?

Erla Stefánsdóttir ist als die „Elfenbeauftragte“ von Island berühmt geworden. Wolfgang Müller konnte nicht ahnen, welche weitreichenden Folgen sein Interview mit Erla haben würde … Doch wie kam es überhaupt dazu?

Alles begann im Jahre 1989, als sich Wolfgang Müller aus Berlin – Künstler, Musiker und Buchautor – zum ersten Mal mit Island und seiner Kultur beschäftigte. Er sammelte Material über Island, um den beliebtesten Motiven noch weitere unbekannte Facetten hinzuzufügen. Dabei wurde er auf Erla Stefánsdóttir aufmerksam. Er reiste nach Reykjavík, um Erla zu interviewen. Doch wie sollte er die Klavierlehrerin mit ihren hellseherischen Fähigkeiten in seinem deutschen Interview vorstellen? Die Bezeichnung „Elfenmedium“ klang seiner Ansicht nach zu schrullig.
In Deutschland werden Menschen die sich z.B. für Minderheiten oder den Naturschutz einsetzen, bekanntlich als „Beauftragte“ bezeichnet. Da Erla bereits Elfenkarten für die Tourismusbehörde erstellt hatte, erfand Wolfgang Müller in seinem Interview den Begriff „Elfenbeauftragte“. Dieses Interview blieb zunächst unveröffentlicht – bis es durch allerlei Zufälle in die Hand einer Zeitungsredakteurin gelangte. Diese zeigte natürlich großes Interesse daran, es mitsamt Erlas äußerst detailreicher Beschreibung der Elfenwelt zu veröffentlichen. Tatsächlich erschien das Interview in der Frankfurter Rundschau im Dezember 1995.
Und genau dieser Artikel, mit dem Begriff der „Elfenbeauftragten“ war der Auslöser für eine kleine Lawine in der Medienlandschaft. Seine Wortschöpfung wurde von den Medien begeistert aufgenommen. In einer rasanten Geschwindigkeit pflanzte sich das Wort „Elfenbeauftragte“ in Print-, Bild- und Tonmedien fort – von Spiegel über Brigitte, RTL-2 bis hin zum ZDF-Morgenmagazin. Die Bezeichnung „Elfenbeauftragte“ verselbständigte sich – und schließlich wurde Erla Stéfansdóttir sogar „Elfenministerin“ genannt, die angeblich mit dem isländischen Präsidenten zusammenarbeiten würde. So entstand also der Mythos, der sich um eine geheimnisvolle Frau rankt, über die es aber kaum weitere seriöse Informationen gibt.
Die über 70-Jährige spürt Orte auf, an denen feinstoffliche Wesen leben sollen und gibt Ratschläge, ob dort gebaut werden darf oder nicht. Dahinter steckt aber durchaus ein wahrer Kern:
Denn es gehört zum isländischen Baugenehmigungsverfahren, zu prüfen, ob durch ein Bauvorhaben Kulturgut beschädigt wird. Zu diesem Kulturgut zählen auch Geländeformationen wie große Steine oder Felsen, die von der Bevölkerung als „von Elfen bewohnt“ angesehen werden. Das ist dann der Fall, wenn zum Beispiel alte Märchen, Erzählungen oder Sagen existieren, die dies behaupten. Dann wird ein externes Gutachten von einer Person eingeholt, die allgemein als elfenkundig gilt. Und zu diesem Personenkreis zählt Erla Stefánsdóttir. Sie behauptet, ein Medium zu sein, das mit Elfen Kontakt aufnehmen könne. Sogar Ämter erheben solche Mythen inzwischen schon zur Maxime ihrer Arbeit:

Wir wollen das Phänomen nicht einfach leugnen, sondern behutsam damit umgehen,

heißt es in Reykjaviks Straßenbauverwaltung. Deshalb ist Erla eine so gefragte Frau. Sie berät Behörden, Privatpersonen und Tourismuszentralen, die längst den PR-Wert ihrer Fabelwesen erkannt haben und Elfenkarten mit reißendem Absatz verkaufen. Ein offizielles oder gar staatliches Amt, wie es die Medien gerne darstellen, ist allerdings ein reines Fantasieprodukt.
Geschichte und Mythologie sind eine Sache, aber das verborgene Volk spielt tagtäglich eine große Rolle im heutigen, modernen Island – vor allem beim Straßenbau. Der Sprecher der isländischen Straßenbaubehörde, Victor Ingolfsson glaubt selbst zwar nicht an Elfen, er gesteht jedoch ein, dass man die Elfen bei einem Straßenbauprojekt nicht außer Acht lassen kann:

Elfen gehören zu unserer Öffentlichkeitsarbeit; wir kennen Bürger, die zu uns gekommen sind, weil sie wegen Bauvorhaben besorgt waren. Island ist eine kleine Gesellschaft. Hier wird jeder ernst genommen. Wir können es uns nicht leisten, jemandem zu sagen, er sei verrückt – wir müssen ihm zuhören.

In der Gemeinde Kópavogur befindet sich einer der berühmtesten Hügel Islands:
Dort sollte eine Straße gebaut werden, die ursprünglich durch den Hügel führen sollte. Dafür musste aber ein Stück vom Felsblock im Hügel abgetragen werden. Alle Versuche den Hügel zu bearbeiten scheiterten. Deshalb weigerten sich die Bauarbeiter am Elfenhügel weiterzuarbeiten. Schließlich wurde der Straßenbauplan an den Hügel angepasst und es wurde eine Straßenverengung gebaut. Heute heißt die Straße deshalb auch Álfshólfsvegur – auf Deutsch: „Elfenhügelweg“.
Seit die Medien regelmäßig Island nach Elfen und Elfensichtigen durchkämmen, hat sich deren Anzahl enorm vermehrt. Mittlerweile finden sich genügend Freiwillige, die sich den angereisten Journalisten als elfenkundig anbieten.

Es ist ziemlich schwer, die echten von den falschen Elfensichtigen zu unterscheiden,

sagt die Künstlerin Ásta Ólafsdóttir.

Zumal wir hier seit neuestem auch einige Arbeitslose haben. Mit Interviews und Elfenführungen lassen sich schon ein paar Kronen dazu verdienen.

Viele Isländer sprechen allerdings nur ungern über den Elfen-Glauben. Vielleicht schämen sie sich für diese Eigenart, weil sie doch so wenig in das Bild des modernen Islands zu passen scheint. Vor allem die jungen Leute bemühen sich, den Anschluss an das restliche Europa nicht zu verpassen. Dass das Bild von Reykjavík inzwischen auch durch amerikanische Fast-Food-Ketten geprägt ist, stört die jüngere Generation weniger. Vielen Älteren geht dieser Wandel allerdings deutlich zu schnell. Und genau dann kommen die Elfen ins Spiel, denn überall dort, wo neu gebaut werden soll, tauchen plötzlich Probleme auf:
Arbeiter werden krank, Wasserleitungen platzen, Maschinen fallen aus. Und immer sollen die Elfen daran Schuld haben. Dieses Phänomen hat Valdimar Hafstein genauer untersucht.
Während sich Island innerhalb weniger Jahrzehnte durch die Industrialisierung komplett gewandelt habe, sei die Welt des verborgenen Volks unverändert geblieben. Hafstein ist der Meinung, dass die Elfen immer noch in der Kultur von Islands vorindustrieller Gesellschaft leben – bei ihnen gebe es keine Zeichen der Modernisierung. Für Hafstein stellt die Welt der Elfen deshalb etwas dar, was sich viele Isländer wieder sehnlichst herbeiwünschen:

Es ist Ausdruck schwerer Sorgen über kulturelle Identität, Nationalgefühl und Zweifeln am sozialen Wandel.

In einem Interview fragte ich Wolfgang Müller: „Wie bewerten Sie, Herr Müller, die Tatsache, dass sich dieser Mythos über eine solch lange Zeit gehalten hat?“

Müller: Dass der sogenannten Realität zunächst die Imagination voraneilt, ist in Island besonders gut zu beobachten. Die Interaktion zwischen Mythos und Realität schafft neue Stabilität.

Ist das typisch für die Mediengesellschaft?

Müller: In einer modernen Mediengesellschaft, die sich aufgeklärt und rationalistisch gibt, sind die Elfen das, was dabei übrigbleibt: so etwas wie der unerwartete Vulkanausbruch oder die überraschende Finanzkrise.

Der Mythos beweist, das Island ein Land ist, welches Menschen und Medien – sowohl im Land als auch außerhalb – zu großer Kreativität anregt. Auf unvergleichliche Weise können in Island Ideen und Gedanken unmittelbar Wirklichkeit werden. Unsichtbares wird sichtbar – Sichtbares wird unsichtbar.
Medien- und Tourismusindustrie haben diesen Mythos geschaffen und halten ihn am Leben. Im Kern war das aber nur möglich, weil tief verwurzelt in der isländischen Geschichte und Kultur der Glaube an das „unsichtbare Volk“ weiterlebt. Nur deshalb konnte sich die angebliche Elfenbeauftragte über 18 Jahre in den Medien halten und immer größere Dimensionen entwickeln. Ohne diesen Hintergrund wäre die Erfindung von Wolfgang Müller schon längst bedeutungslos geworden.
Aber gerade im Zeitalter der Globalisierung und auch nach der Finanzkrise, lebt die Elfenbeauftragte in Erla Stefánsdóttir weiter – als eine Art „oberste Globalisierungsgegnerin“ und als Gegenentwurf zu den Einflüssen der modernen Welt auf die traditionelle isländische Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund ist die Elfenbeauftragte nicht nur – aber sicherlich auch – eine Medieninszenierung. Gleichzeitig ist sie aber auch eine spannende Geschichte über die isländische Natur und Kultur. Aber sie zeigt natürlich auch, wie unkritisch und gierig die Medien eine solche Geschichte einfach weiterverbreiten – ohne den Hintergrund zu reflektieren oder kritisch zu hinterfragen.

Insofern ist Wolfgang Müllers Geschichte von der „Elfenbeauftragten“ auch ein Art Lehrstück – ein Lehrstück, das auf der einen Seite die Sehnsucht des modernen Menschen nach dem Mystischen ausdrückt, auf der anderen Seite aber auch zeigt, wie oberflächlich viele Medien recherchieren und nur das Ziel verfolgen ihre Auflage zu steigern.

Literatur:
Wolfgang Müller: Die Elfe im Schlafsack. Neue Märchen und Fabeln, Verbrecher Verlag, 2001.
Wolfgang Müller: Blue Tit – Das deutsch-isländische Blaumeisenbuch, Martin Schmitz Verlag, 1996.
Wolfgang Müller: Neues von der Elfenfront – Die Wahrheit über Island, edition suhrkamp, 2007.